M. Perrenoud: Migrations, Relations internationales et Seconde Guerre Mondiale

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Titel
Migrations, relations internationales et Seconde Guerre mondiale. Contributions à une histoire de la Suisse au XX e siècle


Autor(en)
Perrenoud, Marc
Erschienen
Neuchâtel 2021: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
557 S.
von
Georg Kreis, Europainstitut der Universität Basel

Es ist üblich, Forscher in vorgerücktem Alter mit einer Publikation zu würdigen, in der ihre wichtigsten, an verschiedenen Orten erschienenen Aufsätze versammelt sind. Dabei kann nicht nur die Bedeutung der einzelnen Beiträge für die Historiographie, sondern auch die Frage interessieren, warum ihr Autor aus dem breiten Feld der Geschichte ausgerechnet die Themen bearbeitet hat, die er mit seinem Schaffen aufgegriffen hat und deren Bearbeitungen jetzt in einem Sammelband in einer Auswahl nochmals vorliegen. Zwei einleitende Beiträge, der eine von Daniel Bourgeois, der andere von Malik Mazbouri und Sébastien Guex, helfen, diese Frage im Fall von Marc Perrenoud (Jg. 1956) zu beantworten.

Die von Perrenoud erarbeiteten Studien ergeben sich aus einer Mischung persönlicher Orientierung und durch Berufstätigkeit sich ergebende Orientiertheit. Die persönliche Orientierung galt – und da wird Perrenouds Eigenschaft als «historien-citoyen» sichtbar – der Geschichte der Arbeiterbewegung, der Arbeitsmigration, der Asylpolitik und (vor dem Hintergrund der frühen Lebensjahre in Algerien) auch den schweizerischen Beziehungen zu Afrika. Die Berufstätigkeit führte ihn in die von den Editionen der diplomatischen Akten der Schweiz (DDS/Dodis) erfasste Welt und da vor allem in die so komplexen wie anspruchsvollen Zusammenhänge von Finanz-und Aussenpolitik. Diese Tätigkeit machte ihn, wobei auch persönliche Disposition mitwirkte, zu einem ausgesprochen quellennah arbeitenden Historiker – einem «historien-sourcier». Perrenouds Leistung beschränkt sich aber nicht darauf, die Quellen gleichsam selbst sprechen zu lassen, sie besteht auch in der Fähigkeit, jeweils treffende Schlüsselquellen überhaupt zu identifizieren und in die Historiographie einzuspeisen. Diese Stärke machte Perrenoud zu einem sehr geschätzten wissenschaftlichen Mitarbeiter der UEK (Bergier-Kommission). In einem dieser Phase seines Arbeitens gewidmeten Aufsatz («Or, diamant et refoulements», S. 511–536) zeigt Perrenoud, dass er ein guter Analytiker auch seiner eigenen Zeit, der gelebten Gegenwart ist.

Die ausserordentlichen Archiv- und Quellenkenntnisse kommen der Staatsgeschichte zugute, sie erstrecken sich aber auch auf gesamtgesellschaftlich relevante Zonen. So kann sich Bourgeois in seiner Einleitung nochmals dafür bedanken, dass Kollege Perrenoud ihn vor über 25 Jahren auf das Dossier «Nestlé 1941» aufmerksam gemacht hatte. Dieses zeigte, dass das genannte Unternehmen gegenüber dem faschistischen Italien meinte, den «arischen» Charakter seines Verwaltungsrats nachweisen zu müssen. Die Einleitungen zu Perrenouds ausgewählten Texten unterscheiden zwischen Themen, die sich mit der «unteren» und der «oberen» Geschichte befassen – mit der «histoire d’en bas» und der «histoire d’en haut». Sie bezeichnen die eine Geschichte als Sphäre der Macht und die andere der Ohnmacht. Das leuchtet ein, weckt allerdings die Frage nach dem Verhältnis der beiden Sphären. Diese muss man sich bei der Lektüre selbst stellen – und beantworten. Während die Analyse der «oberen» Geschichte oft sehr zahlenorientiert ist, erscheint die «untere» Geschichte zuweilen auch in der Gestalt menschlicher Schicksale (mit «chair et visage»), insbesondere im tragischen Parcours des Schweizer Bürgers André Weill von La Chaux-de-Fonds nach Auschwitz (S. 501–510).

Perrenoud betätigte sich über Jahrzehnte als Dienstleister in der Editionsarbeit und in der im Allgemeinen wenig beachteten und äusserst verdienstvollen Mitarbeit am Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) mit 201 Beiträgen, alle aufgelistet im bibliografischen Anhang zusammen mit den vielen nicht nochmals publizierten Artikeln. Perrenouds erster Artikel, 1985, galt dem Bauarbeiterstreik von 1904 in La Chaux-de-Fonds und zeigt die partielle Neigung des Historikers, der sich häufig mit nationalen und internationalen Vorgängen befasst hat, auch zur Regionalgeschichte und damit seine Verankerung im neuenburgischen «terrain».

Zitierweise:
Kreis, Georg: Rezension zu: Perrenoud, Marc: Migrations, Relations internationales et Seconde Guerre Mondiale. Contributions à une histoire de la Suisse au XX e siècle, Neuchâtel 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72 (2), 2022, S. 319-318. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00108>.